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Literatur Schecks Kanon (82)

Ein sadistischer Kotzbrocken geht in die Luft

"Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson": Szenenbild aus dem Zeichtrickfilm von 1985 "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson": Szenenbild aus dem Zeichtrickfilm von 1985
"Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson": Szenenbild aus dem Zeichtrickfilm von 1985
Quelle: picture alliance / United Archiv
Nett ist Nils Holgersson nicht, zum klassischen Kinderbuchhelden hat er es dennoch gebracht. Dabei fängt seine Geschichte ausgerechnet mit einer Bitte des schwedischen Lehrerverbands an.

Was für ein Kotzbrocken! Der 14-jährige Nils Holgersson ist nicht nur faul und strunzdumm, der Sohn schwedischer Kleinbauern ist auch niederträchtig und sadistisch.

Er quält mit Vorliebe kleine Tiere, raubt Vogeljunge aus dem Nest, nur um sie in eine Mergelgrube zu werfen und elend verrecken zu lassen, fängt Wespen, um sie im Ohr einer Kuh freizulassen und ist eine Plage für alles und jeden, der seinen Weg kreuzt.

Bis er eines Tages an den falschen gerät: einen Wichtel, der den Rotzlöffel zur Strafe auf die Größe eines Däumlings schrumpfen lässt. Als eine Schar Wildgänse den zahmen Gänserich Mårten dazu verlockt, sich ihnen auf die Reise nach Lappland anzuschließen, ist auch Nils Holgersson mit von der Partie – unfreiwillig aus Versehen.

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Bald aber schlägt Nils sogar das Angebot des Wichtels aus, ihn in einen Menschen zurückzuverwandeln, weil er lieber mit Mårten und seiner Ersatzfamilie der Wildgänse kreuz und quer durch Schweden ziehen möchte.

Die Besonderheit dieses Buchs liegt in seinen genialen Perspektivwechseln. Lange vor Einführung der zivilen Luftfahrt lässt Selma Lagerlöf ihre Leser Schweden von ganz oben aus der Vogelperspektive erleben, das Land entfaltet sich vor Nils wie ein „großes Tuch, das in eine unglaublich große Menge kleiner und großer Vierecke unterteilt war“. Eigentlich ist dieser ganze lange Roman ein einziger Traum vom Fliegen.

Doch hinzu kommt neben dem ungewohnten Überblick die Sichtweise des Allerkleinsten, die Weltwahrnehmung eines nur eine Handspanne großen Däumlings, für den selbst der Hofkater Misse, erst recht aber der Fuchs Smirre zum unüberwindlichen Widersacher wird.

Kapitalismus und Verzweiflung

Dass sich Nils Holgersson in seiner Hilflosigkeit nicht einrichtet, sondern durch Mut und Gewitztheit in allen Konfrontationen ein ums andere Mal natürlich dennoch die Oberhand gewinnt – darin liegt die Popularität begründet, die dieser Roman bis heute bei Groß und erst recht bei Klein behalten hat.

Didaktik ist der Todfeind jeder Kunst. So gesehen hätte dieser Roman niemals eine Chance haben dürfen, geschweige denn seiner Verfasserin den Weg zum Literaturnobelpreis 1909 ebnen. „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ entstand auf expliziten Wunsch des schwedischen Lehrerverbands. Mit diesem Roman sollten schwedische Schulkinder die Geografie ihres Landes eingebimst bekommen.

Selma Lagerlöf 1858 auf ihrem Gut Marbacka
Selma Lagerlöf 1858 auf ihrem Gut Marbacka
Quelle: picture-alliance / dpa

Dass „Nils Holgersson“ zu den glänzendsten Beispielen des in unseren Tagen wieder so modernen nature writing wurde, liegt an Lagerlöfs Talent als Erzählerin und an den zahllosen Abschweifungen dieses Romans, die sich jeder einfachen parabelhaften Lesart entziehen.

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Kann man an Bord eines Flugzeugs schlafen, ohne sich zu wünschen, in die Daunen unter Gänserich Mårtens Flügel zu kriechen? Und wurde schon einmal schöner über den Zusammenhang von Kapitalismus und Verzweiflung geschrieben als in der Beschreibung eines nächtlichen Ausflugs, zu dem der Storch Herr Ermenrich den Däumling abholt?

Es geht an einen nicht näher beschriebenen Ostseestrand, an dem Nils über eine angelaufene kleine Kupfermünze stolpert, die ihm so wertlos erscheint, dass er sie im Sand liegen lässt. Wenig später taucht plötzlich eine große Stadt vor ihm auf, deren Bewohner trotz der späten Stunde hellwach sind.

Nils Holgersson ist in Vineta gelandet, jener Stadt am Strand der Ostsee, die durch Prunksucht und Übermut den Zorn Gottes auf sich lenkte und vom Meer verschlungen wurde. Alle hundert Jahre, so belehrt Herr Ermenrich Nils Holgersson, steigt Vineta für eine Stunde vom Meeresgrund empor und wartet auf einen gottgefälligen Deal.

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„Wenn du, Däumling, nur die geringste aller Münzen gehabt hättest, um die Kaufleute zu bezahlen, hätte Vineta wieder am Strand liegen dürfen, und die Bewohner hätten leben und sterben dürfen wie andere Menschen.“

Die Klassiker-Kolumne „Schecks Kanon“ erscheint jeden Samstag in der „Literarischen Welt“. Ihre Hintergründe erklärt Denis Scheck hier. „Schecks Kanon“ ist als Podcast bei WDR 5 zu hören und als Video beim SWR zu sehen.

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